Isolierte Mütter

Die Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung der Corona-Pandemie sind hart. Sie schränken unsere Freiheit massiv ein und verändern unseren Alltag radikal. Die Diskussion über die Verhältnismäßigkeit und die eventuell schlimmeren Folgen dieser Maßnahmen für die Gesundheit der Menschen ist im vollen Gange. Wir spüren, dass wir als soziale Wesen in der Isolation physisch und psychisch leiden. Ist das noch menschenwürdig? Sind die tiefen Eingriffe in unsere freiheitlichen Grundrechte überhaupt verfassungskonform? Die FDP-Politikerin Katja Studing fragte kürzlich auf Twitter, was ein Leben noch wert sei, wenn wir uns die Freiheit zu leben nehmen lassen.

Es gibt allerdings einige Bevölkerungsgruppen, die von den derzeitigen Freiheitsbeschränkungen weniger betroffen sind, da sie in Teilen schon lange zu ihrem Alltag gehören. Ich selbst gehöre zu einer dieser Gruppen: der Gruppe junger Mütter mit kleinen Kindern. An das Haus gebunden sein und den Beruf nicht ausüben können? Das kenne ich schon. Einfach mal eben ins Kino, Theater oder ein Konzert besuchen? Schon lange nicht mehr. Zum Abendessen ins Restaurant ? Unvorstellbar. Freunde treffen und einfach mal in Ruhe quatschen? Selten. Existenzängste wegen fehlendem Einkommen und großer Lücken im Lebenslauf? Erzähl mir etwas Neues.

Die Krise, die viele Menschen im Zuge der Notstandsgesetze trifft, habe ich nach der Geburt meines ersten Kindes bereits durchgemacht. Als junge Mutter mit zwei Kleinkindern gehöre ich nämlich zur unsichtbaren Masse der unbezahlt Carearbeitenden in Deutschland. Wir sind vor allem deshalb unsichtbar, weil es in der Öffentlichkeit kaum Orte gibt, wo Mütter mit Kindern willkommen sind. Fast alle öffentlichen Einrichtungen – also gerade die Orte, wo normalerweise das gesellschaftliche Leben abspielt – sind nicht auf Kinder eingestellt. Ja, sogar das Stillen in der Öffentlichkeit ist noch immer verpönt. Fehlt dann auch noch Unterstützung aus dem Freundes- oder Familienkreis, weil Flexibilität und Individualität zu unseren gesellschaftlichen Idealen gehören, ist die Isolation perfekt. Frauen sind nach der Geburt ihrer Kinder im wahrsten Sinne des Wortes mutterseelenallein in die Privatsphäre verbannt. Die Frage aber, warum die extreme Isolation und Ausbeutung junger Mütter auch nach Jahren der Emanzipation eine Selbstverständlichkeit in unserer Gesellschaft ist, wird kaum diskutiert.

Jetzt werden einige sagen, „Moment mal.“ Es gibt doch heute moderne Familien- und Rollenbilder, in denen sich die Eltern die Kinderbetreuung aufteilen können. Außerdem gibt es Betreuungseinrichtungen, die Kinder bereits ab sechs Monaten aufnehmen. Theoretisch haben Frauen also heute die Möglichkeit, sich nach einer kurzen Mutterschaftsphase wieder in die Öffentlichkeit zu begeben. Theoretisch. Die Praxis sieht allerdings oft ganz anders aus. Das hat einerseits strukturelle Gründe, wie die finanzielle Besserstellung des Mannes am Arbeitsmarkt. Oder schlicht die fehlenden Plätze in den Betreuungseinrichtungen. Andererseits stehen Mütter in der Regel von Beginn an in einem engen emotionalen Verhältnis zu ihren Kindern. Die erhebliche Vernachlässigung der Mutter-Kind-Bindung innerhalb von Gleichberechtigungsdebatten macht die meisten politischen Gleichstellungsversuche realitätsfern und größtenteils wirkungslos. Natürlich kann ich mir einreden, dass Bindung und Mütterlichkeit überbewertet sind. Im Umkehrschluss muss ich den Grad meiner Emanzipation daran bemessen, inwieweit ich es schaffe, mich von meinem Kind zu trennen. Wir finden uns schließlich in einer Situation wieder, in der wir uns für unsere mütterlichen Gefühle schämen müssen. Gleichzeitig wachsen wir in einer Gesellschaft auf, in der nur Müttern diese Gefühle zugestanden wird.

Dieses grundsätzliche Dilemma zwischen weiblicher Emanzipation und dem Bedürfnis nach mütterlicher Fürsorge kann auch die Aufhebung von Geschlechterrollen nicht wirklich lösen. Denn das Problem liegt nicht in der engen Mutter-Kind-Beziehung selbst, sondern in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen sie sich entwickeln muss. Dabei ist insbesondere der Ausschluss des Kindes aus dem öffentlichen Raum für die Isolation von Müttern verantwortlich. Dass diese Bedingungen nicht unveränderbar sind, zeigen Beispiele aus anderen Ländern. So war es im Jahr 2017 schon eine kleine Sensation, als in Australien eine Abgeordnete ihr zwei Monate altes Baby während einer Rede stillte. Dank einer Gesetzesänderung, die Kindern zuvor den Zutritt in den Plenarsaal verbot, wurde die kleine Alia das erste Kind, das im Parlament gestillt werden durfte. Stolz sei sie darauf, twitterte Larissa Waters kurze Zeit später. Im Jahr zuvor konnten auch isländische Mütter ihre Babys zu den Sitzungen mitbringen. Dagegen löste der Rausschmiss einer Mutter mit Kind im Thüringer Landtag 2018 heftige Kritik aus. Die Geschäftsordnung des Landtages lasse die Anwesenheit von Kindern nicht zu, so die Argumentation. Doch eine neue Generation von Müttern erklärt die Familie nicht mehr allein zur Privatangelegenheit. Das Stillen in der Öffentlichkeit wird zum politischen Statement.

Um den Bedürfnissen von Mutter und Kind gerecht zu werden und das Dilemma, in dem sich Mütter befinden, zu beenden, brauchen wir endlich eine ernsthafte feministische Auseinandersetzung mit den Bedingungen von Mutterschaft. Da die Beziehung zur Mutter die erste und eindrücklichste Erfahrung unseres Lebens ist, ist es wichtig, sie in jeder familienpolitischen Frage in den Blick zu nehmen. Die Bedingungen müssen sich den Bedürfnissen der Familien anpassen und nicht umgekehrt. Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich ist eine der Forderungen. Für den Feminismus und unsere gesamte Gesellschaft ist es beschämend, dass die Diskriminierung von Millionen von Frauen aufgrund ihrer Mutterschaft noch immer selbstverständlich ist. Die Mütter gehören nicht ins isolierte Abseits, in die privaten und abhängigen Ecken der Gesellschaft, sondern in ihr Zentrum.

Nichts führt uns die Corona-Krise mehr vor Augen als die Verletzlichkeit und Sorgebedürftigkeit des Menschen. Fürsorge gehört zu den essenziellsten Dingen des Lebens. Daher muss sie im Zentrum jeder sozialen Tätigkeit einer überlebensfähigen Spezies stehen. Wir brauchen eine Gesellschaft, in der sich alle Menschen gleichermaßen umeinander kümmern. In der Kinder, ebenso wie alte und behinderte Menschen, nicht von der Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, sondern vielmehr selbstverständlicher Teil sind. Eine Gesellschaft, in der Care-Arbeit keine Privatangelegenheit ist, sondern eine kollektive Aufgabe. Wollen wir das Patriarchat tatsächlich überwinden und unseren Müttern sowie unserer Mutter Erde wieder mit Respekt begegnen, müssen wir uns an weiblichen Prinzipien orientieren, statt an männlichen. Das schließt natürlich auch den Mann mit ein. Damit jeder Mensch zumindest die größtmögliche Chance auf ein freies, gesundes, würdevolles und glückliches Leben hat.

Hinweis:

Dieser Text wurde 2020 auf www.mamaundgesellschaft.de erstveröffentlicht

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert